“Eine Brücke für Ayotzinapa” von Berlin nach Mexiko

Foto: Vicky Nuñez

“Wir sind hier, wir lieben Mexiko und uns erscheint es unmöglich, das Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa hinter uns zu lassen …”, erklärte Elena Poniatowska im Rahmen einer Preisverleihung in Mexiko Stadt. Nach meiner Teilnahme an der Veranstaltung “Ein Brücke nach Mexiko” in Berlin würde ich dem Kommentar der Journalistin Folgendes hinzufügen: auch für denjenigen, der sich weit Weg befindet, eben weil er Mexiko liebt und es bei sich trägt, ist es unmöglich, das Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa hinter sich zu lassen und angesichts einer solchen Situation untätig zu bleiben.

Die unterschiedlichen Demonstrationen der mexikanischen Gesellschaft gegen die Gewalt und Straffreiheit nach den Ereignissen in Ayotzinapa unterstreichen die quälende Unzufriedenheit gegenüber den staatlichen Aktionen in Mexiko. Die Demonstrationen sind vielfältig und gehen von der digitalen Dynamik getragen von Millionen Nutzern sozialer Netzwerke über die Teilnahme an Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen bis hin zur Organisation von Initiativen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die in Mexiko begangenen Ungerechtigkeiten sichtbarer zu machen.

Die Veranstaltung “Eine Brücke nach Mexiko”, wie sie von den Organisatoren benannt und die von drei großen Initiativen getragen wurde ist ein klares Beispiel dafür, dass der Wille, das Engagement, die Professionalität und die Arbeit einer Gruppe von jungen Mexikanern an einem Wochenende dazu beitragen können, Ideen und Kenntnisse auszutauschen, verwickelte Probleme zu klären und auf internationaler Ebene die Sichtbarkeit dessen zu erhöhen, was derzeit in Mexiko geschieht.

Foto: Vicky Nuñez

Der Kongress (19.-20. Februar, Lateinamerika-Institut / Freie Universität Berlin)

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“Nach Ayotzinapa: Staat, Organisierte Kriminalität und Zivilgesellschaft” war der Titel des Kongresses, welcher am 19. und 20. Februar in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen Organisationen und Instituten stattfand. Dazu gehörten: die Heinrich-Böll-Stiftung, das Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, das Kollegium der Absolventen und die Vereinigung Méxiko Vía Berlín. Innerhalb von zwei Tagen nahmen an der Veranstaltung verschiedene Wissenschaftler, Akademiker, Aktivisten und Neugierige verschiedener Nationalitäten teil, wobei der Altersdurchschnitt bei etwa 30 Jahren lag. Zu den primären Zielen der Veranstaltung gehörte die Schaffung eines Rahmens für die theoretische Reflexion sowie die Klärung von Konzepten, welche sich gegen die stereotypisierte Darstellung der Situation der Gewalt in Mexiko richten.

Die Konzepte

Das Konzept der “Gewalt” als zentrale Größe der Probleme wurde an diesem Wochenende auf verschiedenen Ebenen in Angriff genommen, die von der “Bedeutungsgewalt” bis hin zur “Physischen Gewalt” reichen. Um die Reichweite des Schadens zu ermessen, ist es grundlegend die Charakteristiken des Autors der Gewalt zu kennen, d.h., ob es sich um eine natürliche oder öffentliche Person, eine Gruppe von Tätern oder einen Staat handelt.

Foto: Vicky Nuñez

Die “Bedeutungsgewalt” kann, wie es Rodrigo Llanes Salazar und Adalberto Lopez Carballo während des Kongresses erklärten, Handlungen oder Bedeutungen modifizieren oder delegitimieren, indem sie Personen und Ausdrücken falsche oder sogar rassistische Attribute zuordnet. Ein deutliches Beispiel ist jenes, welche vom “Sub director de Asignacion de Becas de Estudio Nacional del Consejo Nacional de Ciencia y Tecnologia (Conacyt), Francisco Victoriano Pagoaga” benutzt wurde, als er die verschwundenen Studenten als “Ayotzinacos” bezeichnete. Auf diese Weise lässt er den Rassismus und das Klassendenken deutlich werden, welche leider noch immer einige Bereiche der mexikanischen Gesellschaft beherrschen.

In Bezug auf die “Physische Gewalt” wurden zwei Schlüsselkonzepte herausgehoben: “Erzwungenes Verschwinden” und “Extralegale Hinrichtungen”. Nach Ayotzinapa lässt sich der Zustand der Gewalt, welchen man in Mexiko erlebt, und die dazugehörige Verantwortlichkeit der mexikanischen Behörden nicht mehr verleugnen. Die Bedeutung dieser beiden Konzepte ist entscheidend, um die Straffreiheit zu verstehen.

Als “Erzwungenes Verschwinden” bezeichnet man die Festnahme, die Inhaftierung, die Entführung oder jegliche andere Form des Freiheitsentzugs durch staatliche Akteure, durch Einzelpersonen oder Gruppen, deren Agieren durch den Staat autorisiert, unterstützt oder anerkannt wird.

Die “Extralegalen Hinrichtungen” sind vorsätzliche Tötungen, welche durch staatliche Organe begangen werden (oder an denen diese zumindest beteiligt sind) und welche gleichzeitig rechtswidrig vom Standpunkt des nationalen Rechts sind.

Die Waffen

Wenn man von “Physischer Gewalt” spricht, darf man die wichtigsten Mittel zu dessen Ausübung nicht vergessen: Waffen. In Bezug auf dieses Thema, sind der mexikanische und deutsche Staat leider stark miteinander verwickelt und haben je eigene Verantwortlichkeiten.

Foto: Vicky Nuñez

Deutschland, drittgrößter Waffenexporteur weltweit, hat Nachforschungen der Vereinigung Méxiko Vía Berlín zufolge einen Teil der Verantwortung, wenn es um die Präsenz von illegalen Waffen in Mexiko geht. Das deutsche Innenministerium hat die Aufgabe, den Export von deutschen Waffen in die Welt, vor allem in Länder welche als Konfliktgebiete gelten, zu kontrollieren. Den Nachforschungen zufolge gibt es nicht nur keine “präzise” Kontrolle in Bezug auf die Exporte (und in Konsequenz ebenfalls der Präsenz illegaler deutscher Waffen in Mexiko), sondern darüber hinaus auch keinerlei Kontrollen der Exporte und Verkäufe von Maschinen zur Herstellung von Waffen.
Weitere Daten aus der Untersuchung erklären, wie unterschiedliche Modalitäten der Zusammenarbeit im Sicherheitssektor innerhalb Mexikos, wozu z.B. Programme zur Ausbildung der Polizeieinheiten oder des Militärs gehören, am Ende ausschließlich der Waffenindustrie zugute kommen könnten.

Die Feier (20. Februar / Subversiv)

Zum Abschuss des Kongresses durfte der unterhaltsame Teil, mit dem sich die Mexikaner angesichts der eigenen Probleme unterstützen, nicht fehlen: eine Fiesta. Wie bei den besten “bailongos” der Straße, war die Party im “Subversiv” mit dem Namen “Cumbia un Cambio – Solidalparty por Ayotzinapa”, mitten im Zentrum Berlins vom Colectivo 43 organisiert, eine Möglichkeit zu tanzen, zu reden, einen “trago solidario” zu trinken und “Quesidillas” oder “Molletes” mit viel “Chile Chipoptle” und “Salsa Pico de Gallo” zu probieren. Die Erlöse des Abends kommen den Familien der verschwundenen Studenten über www.betterplace.org zugute.

Foto: Vicky Nuñez

Der Workshop (21. Februar / Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Am Abend des 21. Februar, von großer Müdigkeit begleitet, blieb trotzdem noch die Energie, um den Workshop “Das Permanente Völkertribunal (PVT) – mexikanisches Kapitel, Vorträge und Perspektiven” zu veranstalten. Innerhalb einiger Stunden konnten die Funktionen des Tribunals und dessen Arbeit erklärt sowie Fragen diskutiert werden.

Zu den Aufgaben des Tribunals gehört es, Beweise zusammenzustellen, um ein “Urteil des Gewissens” gegenüber dem mexikanischen Staat zu fällen. Nach dem Fall von Ayotzinapa hat das PVT eine klare Feststellung getroffen: “Es ist der Staat gewesen”. Dieser Satz dient als Ausgangspunkt für verschiedene Fragen: Was ist der Staat? Wer ist der Staat in Mexiko? Welches sind die Aufgaben und Grenzen des Staates? Wie kann ein korrupter Staat einen Rechtsstaat schaffen? Ist der mexikanische Staat ein “gescheiterter Staat”, ein “autoritärer Staat”, ein “Narkostaat” oder etwas ganz anderes?

Die Distanz zwischen Mexiko und Deutschland verkürzen

Eine der größten Stärken der dreitägigen Veranstaltungsreihe ist die dadurch verstärkte Sichtbarkeit der Initiative “Eine Brücke nach Mexiko” in einer der wichtigsten europäischen Hauptstädte, wie es Berlin darstellt. Dazu kommt, dass der Fall Ayotzinapa aus unterschiedlichen Perspektiven wie der zivilen, der sozialen, der akademischen und der kulturellen gründlich analysiert wurde. Die Aktualität der auf dem Kongress vorgestellten Studien und Nachforschungen stellte für die Teilnehmer eine Möglichkeit dar, sich zu informieren, die aktuellen Entwicklungen nachzuverfolgen, zu reflektieren und neue Fragestellungen in Bezug auf das Thema zu formulieren.

Einziger Nachteil der Veranstaltung war meiner Meinung nach, dass sie ausschließlich auf Spanisch stattfand, wodurch der Zugang für Leute, die der Sprache nicht mächtig sind, erschwert wurde. Auf jeden Fall ist sie eine Brücke gewesen, die die Distanz zwischen Mexiko und Deutschland durch Neugier, Zusammenarbeit, Tatendrang und Solidarität verkürzt hat.

Text: Vicky Nunez
Übersetzung: Alex H.

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